Hochsensible Alltagshilfe
 

Hier werden künftig einige typische Fallbeispiele, von den Betroffenen selber verfasst, veröffentlich, damit auch andere einen Eindruck bekommen können.

Vor allem soll aber den sog. „Experten“ endlich mal gezeigt werden, dass alles kein Hexenwerk ist und bei entsprechend positiver Erziehung alles seinen Weg gehen kann!

 

1. Fallbeispiel: Frühstück im Hotel

 

Vorgeschichte

 

Wir fahren in einen Kurzurlaub. Unsere sechsjährige Tochter, von der wir seit 2 Jahren wissen, dass sie hochsensibel ist, stresst das sehr. Sie fühlt sich zuhause am wohlsten und steht Veränderungen generell sehr skeptisch gegenüber. Auf Ängste und Überforderung reagiert sie seit ihrem zweiten Lebensjahr mit Erbrechen. Bei Anspannung verweigert sie außerdem jegliches Essen, was uns regelmäßig besorgt macht, da sie ohnehin sehr dünn ist. Erbrechen, Essen, Angst, Anspannung… all das hat sich bereits als Erfahrungsmuster bei unserer Tochter verwoben.

 

Seit wir um ihre Hochsensibilität wissen, nehmen wir mehr Rücksicht auf sie, auch was die Urlaubsfahrten angeht; wir fahren im Sommer bevorzugt in einen Ort, an dem wir schon öfter waren und an dem sie sich auskennt. Auch dieser Kurzurlaub geht in vertrautes Terrain; wir werden außerdem in dem gleichen Hotel unterkommen wie immer. Trotzdem: Es ist zu weit und wir bleiben über Nacht, damit gerät unsere Tochter in großen Stress.

 

Verlauf

 

Am Morgen der Fahrt wacht unsere Tochter bereits weinend auf. Sie möchte nicht wegfahren, weiß aber, dass kein Weg daran vorbeiführt. Wir wechseln zwischen Trost und Ermutigung. Zum Frühstück isst sie nichts. Kurz vor Fahrtbeginn übergibt sie sich dann. Wir versichern ihr, dass das nicht schlimm ist, und fahren los. Auf der Fahrt isst sie nichts, abends im Hotelzimmer immerhin ein halbes Brötchen.

 

Am nächsten Tag wachen wir zu dritt im Hotel auf. Während mein Mann duscht und sich bereits auf das üppige Frühstücksbuffet im Hotel freut, liegt unsere Tochter zusammengekrümmt und verstört im Bett. Ich merke, wie die bekannten Gefühle in mir aufsteigen – Sorge, Verzweiflung, aber auch Wut, schließlich wollen wir es uns schön machen. Ich gehe die möglichen Verläufe durch:

  • Entweder wir sitzen zu dritt beim Frühstück und unsere Tochter schafft es, ihre Übelkeit zu unterdrücken – dann wird sie jedoch unter Garantie nichts essen und ich werde das Frühstück nicht genießen können.
  • Oder sie schafft es nicht – dann wird einer von uns im Laufschritt den Speisesaal mit ihr verlassen müssen und hoffen, dass es noch rechtzeitig gelingt, eine Toilette zu erreichen.

Es sind beides keine verlockenden Aussichten.

 

Und dann gelingt es mir auf einmal, mich stärker in sie hineinzuversetzen. Ich betrachte die Situation „Frühstück im Hotel“ einmal durch die „hochsensible Brille“. Das, was mein Mann und ich so attraktiv finden – eine andere Umgebung, Musik zum Frühstück, Kellnerinnen, ein Buffet, zu dem man immer wieder hingehen kann – all das muss aus Sicht unserer Tochter purer Stress sein. Durch die fremde Umgebung und die Entfernung von zuhause ist sie vollkommen angespannt – und das betrifft auch ihre Magennerven, sie kämpft also sowohl mit einer latenten Übelkeit als auch mit der Angst, sich übergeben zu müssen. Und in dieser Situation findet sie sich in einem großen Speisesaal wieder, mit Hintergrundmusik, mit Gerüchen nach Bratfett und Brötchen, mit vielen anderen Menschen, am besten noch dicht an ihr platziert – und ihre Eltern verlassen zwischendurch immer mal wieder den Tisch, um sich etwas Neues zu essen zu holen. In dieser Situation wird sie schlicht nicht essen KÖNNEN – das wird mir auf einmal klar. Ich stimme mich kurz mit meinem Mann ab, betrachte sie dann und sage: „Du siehst, Papa und ich machen uns fertig, um zum Frühstück zu gehen; und Du weißt, dass wir uns auf das Frühstück freuen. Aber ich sehe, dass Du Dich schwertust damit, dass wir jetzt hier sind; und ich habe das Gefühl, dass das ganz schön anstrengend für Dich ist. Liege ich richtig damit, dass Du jetzt nicht gerade Lust hast, mit uns in den Speisesaal zu gehen?“ Unsere Tochter sieht mich überrascht an und nickt heftig. Ich schlage ihr vor, dass erst ich zum Frühstück gehe und ihr dann ein Brötchen mitbringe, so dass sie auf dem Zimmer essen kann, während mein Mann dann seinerseits zum Frühstück geht. Ich bin selbst davon überrascht, wie sehr sich die Körpersprache unserer Tochter daraufhin verändert; es fällt sichtbar Anspannung von ihr ab und sie stimmt erleichtert zu. Ich gehe zum Frühstück in der Gewissheit, eine gute Lösung gefunden zu haben; unserer Tochter ist damit geholfen und sowohl ich als auch mein Mann können unser Frühstück genießen, wenn auch nicht zusammen – aber das ist zu verschmerzen. Als ich mit dem Brötchen wieder ins Hotelzimmer zurückkehre, hat unsere Tochter das Bett verlassen, sich angezogen und bereits ein Brötchen vom Vortag gegessen. In den folgenden Tagen geht sie wie selbstverständlich mit in den Speisesaal. Es ist, als ob sich etwas in ihr gelockert hätte. Während der restlichen Zeit während des Kurzurlaubs ist sie zwar nicht frei von Anspannung, aber sie verspannt sich nicht so sehr, dass sie sich übergeben muss.

 

Fazit

 

Mir ist erst während dieser Situation klargeworden, wie oft die Situation „Essen“ mit – aus Sicht der Hochsensiblen – belastenden Faktoren zusammentrifft. Essen gehen ins Restaurant, Essen im Hotel, große Familientreffen, die selbstverständlich an der Kuchentafel stattfinden – all das, was wir mit Geselligkeit verbinden, ist purer Stress für Hochsensible. Dass es dabei bei unserer Tochter vermehrt zu Erbrechen kommt, ist vor diesem Hintergrund gar nicht verwunderlich. Bisher hatte sich dies aber bei uns eher als vorhersehbarer Konflikt verselbständigt; bei uns löste das Verhalten oft Ärger aus, der halbbewusst seinen Ursprung hatte in Gedanken wie „Immer, wenn wir etwas genießen wollen, geht das schief“ bis hin zu der Tatsache, dass je älter das Kind ist, Erbrechen in der Öffentlichkeit auch nicht gerade auf soziale Begeisterung der Umwelt stößt. Es wird sicher nicht gelingen, mit dieser neuen Erkenntnis sämtliche ähnlich gelagerten Situationen zu entschärfen – aber unsere Bewertung hat sich deutlich geändert und das Verständnis für unsere Tochter ist gewachsen.